Eigentlich war der Stockhorn-Südgrat das ausgeschriebene Ziel. Vier Kletterinnen und Kletterer interessierten sich dafür, zu viele um in vernünftiger Zeit durch diese große, lange Tour über fünf Türme zu kommen. Um vor dem nächsten Schritt Erfahrung zu sammeln in mittellangen alpinen Touren, fiel die Wahl für unsere Gruppe letztlich auf die Gelmerhörner. Mit dem dreistündigen Zustieg vom Gelmersee und einigen Seillängen in bestem Grimselgranit bietet die vielgerühmte Route Dornröschenschlaf an der Gelmerspitze 3 (2710m) eine wunderbare Bergfahrt. Nun gut, man hätte sich auch gut zwei Stunden Zustieg ersparen können und auf der Gelmerhütte übernachten können. Eine ruhige Nacht im Zelt auf der schön gelegenen Wiese neben dem Gelmersee, sogar mit einem kleinen Sandstrand ausgestattet, entschädigt aber allemal für etwas mehr Gepäck und ein paar zusätzliche Schritte.
Früh morgens geht es los. Kaffee, Frühstück in der ersten Morgensonne, schnell das Zelt zusammengepackt und im Latschengebüsch verstaut. Der Weg führt an der Gelmerhütte vorbei und von dort aus über vage Pfadspuren hinab in den Gletscher-Schwemmfächer des Oberen Diechters. Vor ein paar Jahren haben wir uns schon einmal hier umgetan, als wir auf dem Weg in die Gletscherwelt um das Diechterhorn waren. Je nach Wasserstand ist es nicht ganz trivial, den breiten Diechterbach zu überqueren. Man muss sich davor hüten, die schwach überflossenen Platten im unteren Bereich zu überqueren, jeder Ausrutscher hier führt leicht über den großen Wasserfall hinab zum mittleren Diechter. Ein sicherer Übergang führt 100 Meter weiter bachaufwärts über einige große Steine. Mit wohldosierten Hüpfern kommt man eigentlich ganz gut rüber, oder zumindest zu einem kleinen Fußbad, wenn der Sprung dann doch nicht wohldosiert war.
Über steiles Gras und Geröll geht es den Hang hinauf zum Beginn der Route. Die Steigeisen haben wir umsonst eingepackt, man kann das Schneefeld am Einstieg gut umgehen. In einer Dreier- und einer Zweierseilschaft, die miteinander noch über einen Seilstrang verbunden sind, steigen wir ein. Von Anfang an führt die Route über schönen, kompakten Fels, immer mit Blick auf den azurblauen Gelmersee tief unter uns. Die Schlüsselstelle wartet schon in der dritten Seillänge, die kurze Passage an einem Steilaufschwung im oberen 6. Grat löst sich überraschend leicht auf. Auch die Absicherung ist besser als erwartet. Insgesamt gelten die Touren an den Gelmerhörnern eher als sportlich abgesichert, was neben dem etwas längeren Zustieg dazu führt, dass die meisten Tour hier trotz perfekter Felsqualität nur selten besucht werden.
Im oberen Teil entscheiden wir uns für die parallel verlaufende Route Roter Oktober. Der Fels sieht hier noch verlockender und kompakter aus und wird von Schuppen und vertikal und horizontal verlaufenden Risslinien durchzogen. Nicht ganz einfach, aber zwei wunderschöne 6er-Seillängen. Vor allem die Passagen, in denen man an Untergriffen auf Schienbeinhöhe balancierend Bänder traversiert, und eine in einer Verschneidung eingeklemmte 3m hohe Felsnadel bleiben in bester Erinnerung. Am Gipfel haben wir eine tolle Aussicht auf die nahen Berner Alpen mit Finsteraarhorn, Lauteraarhorn und Schreckhorn. Eigentlich hätte es eine Woche später in diese Richtung gehen sollen zum Groß Wannenhorn, das Wetter sollte dann aber eine Ausweichtour notwendig machen. Der Abstieg führt nach einer ersten Abseillänge über steiles Grasgelände zur zentralen Abseilstelle, die sich erst nach einigem Suchen finden lässt. Von hier geht es sehr luftig über eine überhängende Kante zum Einstieg zurück. Erst spät am Abend sind wir wieder am Parkplatz an der Grimselpass-Straße und legen uns nach dem Abendessen in die Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen steht ein weiterer Grimsel-Klassiker auf dem Programm. Der Einstieg der von Jürg von Känel, dem Autor der Schweiz plaisir-Kletterführer, erstbegangenen Route Sagittarius an der Gelmerfluh ist vom Parkplatz Chüenzentennlen aus rasch erreicht. Schon die ersten Meter im glatten Fels machen dann aber schnell klar, dass wir eine ziemlich anspruchsvolle Tour vor uns haben. Die erste und die letzte der 13 Seillängen sind mit 5+ bewertet, alle anderen im 6. und unteren 7. Grad, die Schlüsselstelle wäre frei geklettert sogar noch schwieriger. Gut, dass die Absicherung perfekt ist, fürchten muss man sich an keiner Stelle, nur gut stehen und den Fels ab und an listig überwinden. So findet man sich in der vierten Seillänge in mehr oder weniger heikler Hangellage mit den Füßen auf der einen Wandseite und den Händen gestützt auf der rechts anschließenden Platte. Eine wohl koordinierte Lösung, um an die rettende Griffleiste auf der Platte zu kommen, ist nicht leicht zu finden. Erst fällt es schwer, sich von der linken Wandseite dynamisch abzustoßen, beim Abfangen des Körperschwungs prallt man dann schnell etwas unsanft auf den Fels; der Aufprall eines Wals auf dem Wasser sieht jedenfalls eleganter aus.
Die Risse machen vielleicht den größten Reiz der Route aus, v.a. der berühmte 30m-Handriss, der sich durch die steile Platte zieht, oder die Schwarze Kante, in der man die stumpfe Kante in der rechten Hand hält und mit der linken Hand eine gezackte Rissspur ein gutes Stück unterhalb der Kante. Wie bei vielen Klassikern haben die charakteristischen Passagen eigene Namen bekommen. So auch das Tomsdach, die knifflige Schlüsselstelle der Tour, die sich nach ein paar anstrengenden Seillängen in der prallen Mittagssonne am schnellsten mit einem Griff in die Haken lösen lässt. So lassen sich ein paar Kraftreserven sparen für die 5 letzten Seillängen. Mit einer 7- -Hangelleiste am Ende der 9. SL beginnt der steile Teil der Tour. Erst sind wir angesichts des aufkommenden Wolken und Wind noch etwas skeptisch, ob es zu einer Wetterverschlechterung kommen wird. Eine 70jährige Schweizerin, die die Tour schon mehrfach geklettert ist, versichert uns aber, dass das Wetter halten wird und so klettern wir die Tour bis zum Ausstieg. So wirklich steil ist das Gelände dann doch nicht und es kommt uns auch etwas leichter vor als die Bewertung vermuten lässt, beste Voraussetzungen also für ein grandioses Finale zum Genießen.
Den unteren Teil des tollen Handriss dürfen wir beim Abseilen gleich nochmal klettern. Das Seil verhängt sich beim Seilabziehen zwei Meter tief im Riss, lässt sich zum Glück aber beim zweiten Versuch dann doch abziehen. Wie so oft nach langen Touren freuen sich die in den Kletterschuhen eingequetschten Zehen nach der langen Kletterei und der Abseilaktion am Wandfuß fast am meisten, wieder unten zu sein. Für uns Kletterer, die wir uns so gern schmerzende Zehen antun, bleiben die schönen Erinnerungen an zwei tolle, lange Tourentage und die Gewissheit, dass es fast mehr Grimselklassiker gibt, als man in einem Kletterleben erleben kann. Grund genug also auch in Zukunft immer wieder mal hier vorbeizuschauen.
Jochen Dümas