Genau 3509 Meter muss man aufsteigen, um diese grandiose Sicht zu genießen: Steil geht es hinab nach Norden ins Zillertal. Rüber nach Südtirol in die Dolomiten, bis ins Ortlergebiet hinein, die Hohentauern in der Ferne. Der Alpenhauptkamm liegt einem zu Füßen. Über einem ragt nur das Gipfelkreuz in den sonnigen Himmel: Die Rede ist vom Hochfeiler, dem höchsten Berg des Zillertals, genau auf der Grenze aufragend zwischen Tirol und Südtirol, Österreich und Italien.
Der Klimawandel mag mit Schuld daran sein, dass man den imposanten Riesen nicht nur mit Eisausrüstung und Seil erklimmen kann, sondern auch als Wanderer, mit Wanderschuhen und einer passablen Kondition. Normalerweise.
Derart eingestimmt machen wir uns – die Karlsruher Truppe aus Bergziegen, wenngleich nicht unbedingt echte Hochtour-Gemsen - Anfang August an seine Erklimmung. Wanderführerin Susanne Schätzle hatte geladen: Die eine Hälfte bewährte Fahrensleute aus vergangenen Jahren. Die andere neue Bergkameradinnen und Kameraden mit Lust auf Südtiroler Sommerfrische.
Ab Sterzing kurz hinter dem Brenner wird es auf der Pfitscher-Joch-Straße plötzlich einsam. Der Normalweg auf den Berg führt nicht durchs Zillertal, sondern von Süden her, über die Hochfeilerhütte und den meist eisfreien Südwestgrad. Meist.
So ist der Plan, als sich unsere drei Autoladungen relativ pünktlich am Freitagmittag in der dritten Kehre treffen, um frohgemut bergan zu steigen. Nach knapp 500 Kilometern im Auto erwarten uns noch gut 1.000 Höhenmeter zu Fuß. „Habt ihr wasserfeste Schuhe?“, fragt gleich zu Beginn der Strecke ein Entgegenkommender. Ja, es hatte auch hier viel geregnet. Und wo einst ein Weg war, war beim Aufstieg mitunter ein Bächlein. Die großen Gewässer allerdings überqueren wir mit komfortablen Brücken und Steigen. Gleich zu Beginn lohnt der Blick in den rauschenden Abgrund des Pfitscher Bachs – ein reißender Gebirgsbach in diesen Tagen.
Sonne von oben, nasses Gras: Karlsruhe, der Alltag, aller Stress ist spätestens hinter der vierten Kehre vergessen. Es wird steiler. Die Konzentration gilt nur dem nächsten Schritt. Gemütlich schrauben wir uns Stunde um Stunde nach oben. „Wo arbeitest du?“ „Ach, du warst auch schon mit Eric auf Tour?“ Und was ist jetzt genau das Problem an der Fidelitashütte?“ – wo anfangs noch reges Kennenlernen und Plauderei herrscht, werden die Gespräche mit jeden hundert Höhenmetern spärlicher. Die Aussicht dafür umso grandioser.
Nach dem Wald öffnet sich eine blühende Wiesenlandschaft. Und wenn man den ersten Blick auf die etwas traurige Zunge des Gliederferners erhascht, ist es bis zur Hütte und zum Abendessen nicht mehr weit. Doch Bergerfahrene wissen: Nur weil man die Hütte schon sieht, ist man noch lange nicht da. Kurz wird es nochmal steil, dann: Pfeffersteak und Spätzle, Hüttenromantik, Radler und Rotwein. Extras auf der Hochfeilerhütte: Eine süße Babykatze, die auf 2.710 Metern heimisch ist, Südtiroler Küche (steht für sich), eine nette Wirtsfamilie (eh klar), kein WLAN, dafür Dusche (umgekehrt wäre auch O.K.) und: Kein Corona (scheint generell über 1.000 Meter weniger gefährlich).
3509 Meter, das ist das Ziel nach der ersten Nacht. 799 Meter Differenz – sollte zu schaffen sein. Sollte. Nebel am Morgen - aus der Sommerfrische ist über Nacht eine fröstelnde Winterfrische geworden. Los geht‘s. Die Aussagen anderer Gipfelbesteiger sind widersprüchlich. Zu viel Schnee unterm Gipfel, gerade noch akzeptabel, alles easy – kommt immer drauf an, wen man fragt.
Wir befragen uns und steigen motiviert los, über einen kleinen drahtversicherten Steig kurz nach der Hütte zum Aufwärmen und dann über den langen Kamm dem Gipfel entgegen. Plötzlich türmen sich bizarre Plattenformationen vor uns auf. Allein diese Mondlandschaft lohnt den Aufstieg. „Bei schönem Wetter im Sommer ist die Besteigung relativ unschwierig“, schreibt der Bergführer. Relativ. Aber was ist mit Nebel? Die Orientierung wird zunehmend schwierig, Sichtkontakt zu halten auch. Mütze, Handschuhe, Fleecejacke und Windschutz sind hier oben Pflicht. „Bei schlechtem Wetter werden die Verhältnisse auf den letzten Metern schnell ungemütlich und anspruchsvoll.“ Schreibt der Führer. Spoiler: Er hat Recht. Die letzten Meter beginnen für uns etwa ab 3.200. Knöchelhoch liegt sulziger Schnee, der bei jedem die Konzentration erhöht. Letzte Gespräche verstummen. Jeder Schritt muss jetzt sitzen, zumal bei denen, die keine Grödeln an den Füßen haben.
Auf etwa 3300 Meter, wir haben gerade den Beginn des Südwestgrades erreicht, steht fest: Der Gipfel bekommt uns nicht mehr zu Gesicht. Schade für ihn. Die Sicht zu schlecht, die Verhältnisse zu unsicher, die Ausrüstung nicht ideal, die Temperaturen am Nullpunkt. Die Laune dagegen noch passabel. Der versprochene grandiose Ausblick? Bleibt uns leider verborgen.
Mit dem Abstieg beginnt an diesem Tag auch der Sturm, der bis in die Nacht anhalten soll. Am frühen Nachmittag gelangen wir zurück zur Hütte. Manche suchen die Wärme beim Mittagsschlaf im Lager, andere bei der heißen Schoki in der Stube und wieder andere beim Spaziergang zum nahen Gletscher.
Der Abend klingt mit der obligatorischen Mäxlerunde aus: Noch immer die Hütte windumtost geht es ins Bett. Am Sonntag dann noch der Abstieg, im Regen, mit trotzdem tollen Einblicken in eine grandiose und zugleich relativ einsame Landschaft.
Dort, wo am Freitag noch Weg war, ist jetzt größtenteils Bach. Wie viel hält Goretex aus?, fragte sich mancher.
Den Kaiserschmarrn im Tal allerdings, den genießen wir schon wieder in der prallen Sonne. Und die Erinnerungen an diese schöne Tour hält definitiv länger als manche angeblich wasserdichte Membran. Definitiv.
Christina Zäpfel