Zu den Mysterien beim Alpinklettern gehört, dass man immer wieder mit viel Aufwand Touren heraussucht, um dann just am ausgeschrieben Wochenende feststellen zu müssen, dass man wohl mal wieder versehentlich einen Antrag auf Schlechtwetter mit eingereicht hat. Alpinklettern ist zwar mit das Schönste, was man in den Bergen erleben kann, es ist aber auch eine ausgesprochen wettersensible Bersportart. Schon ein kurzer Schauer kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass man weder weiterklettern noch umkehren kann.
Wenig verwunderlich also, dass auch der erste Versuch, die ausgeschriebene Tour im Tennengebirge durchzuführen, mit einer im gesamten Alpenraum nicht klettertauglichen Wettervorhersage, Stornogebühren der Hütte und der Suche nach Ersatzterminen endet. Zum Glück findet sich am Ersatzwochenende ein Schönwetterfenster in der Westschweiz. Eines der klassischen Kletterziele, die sich dort anbieten, ist die Miroir d` Argentine, der größte Plattenspiegel in den Alpen.
Eine Besteigung dieses riesigen Plattenbaus, der übersetzt Silberspiegel heißen würde, ist ein tagesfüllende Tour. Zum Einklettern nach der Anfahrt geht es am ersten Tag daher erst mal nach Pissevache, eines der talnahen Klettergebiete mit etwas kürzeren Touren im Rhonetal. Was die Urbewohner dazu gebracht hat, diesen Ort so zu nennen, bleibt wohl auf ewig ihr Geheimnis. Nach einem etwas abenteuerlichen einstündigen Zustieg in T4-T5-Gelände über schmale Pfadspuren und steile, mit Fixseilen gesicherte Felsplatten stehen wir am Einstieg der Route Bravo Lapp. Neun Seillängen lang führt die Route bis zum Schwierigkeitsgrad 5c abwechslungsreich über Verschneidungen, Platten und kurze Wandpassagen in schönem Gneisgestein nach oben. Unterwegs klettert man an der Statue eines Buddha-Hasen vorbei, die hoch über dem Rhonetal thront, und kurz danach sogar an einer bestens ausgestatteten Biwakhütte unterhalb der Abschlusswand. Nach dem Ausstieg über eine 6a-Variante steigt man noch eine Weile im Wald weiter nach oben, bevor es wieder zurück nach Les Granges geht.
Nach einstündiger Fahrt über schmale Straßen erreichen wir am Abend unser eigentliches Ziel, die in einem schönen Hochtal gelegene und nur aus wenigen Gebäuden und einem Parkplatz bestehende Almsiedlung Solalex. Direkt über uns leuchtet ein riesiger Spiegel aus glattem, rissdurchzogenen Kalk. Bei Spinatnudeln und Rotwein gleitet der Blick von der Biwakwiese mit den Zelten immer wieder dorthin hoch, wahrlich ein beeindruckender Anblick. Fast möchte man hochrufen, ob das, was uns dort oben erwartet, tatsächlich so mächtig ist wie es aussieht:
Spieglein Spieglein in der Wand,
wer ist der größte Plattenspiegel im Alpenland?
Das bin ich, schallt herab die Miroir d´Argentine
und lächelt silbern schimmernd im Abendlicht
Nachdem das geklärt ist, weckt uns früh schon am nächsten Morgen der Wecker. Die erste Schlüsselstelle des Tages wartet schon nach ein paar Metern, ein breites, von Geröll durchzogenes Flussbett mit munter aus den Bergen herab fließendem Wasser. Nach etwas Suchen schaffen wir es, über ein paar Steine springend den Bach zu überqueren. Steile Wiesenhänge führen dahinter hinauf zur Wand. Bis zum eigentlichen Einstieg sind schon ein paar erste steile Klettermeter über Platten zu kraxeln. Eine gemischt griechisch-niederländische Seilschaft aus Lausanne steigt vor uns in die erste Seillänge ein.
Die 40 Meter hohe 5a-Verschneidung ist recht anspruchsvoll, so gar nicht plattig fühlt sich das an im steilen, glatten Fels. Der Grieche vor uns rutscht beim Ausspreizen denn auch aus und verfängt sich mit seinem Körper kurz in einem breiten Riss. Nach drei Seillängen können wir mit einer unserer zwei Seilschaften vorbeiziehen. Eigentlich sollte es hier rasch weitergehen. Im Topo steht steht an dieser von unten eigentlich harmlos ausschauenden Kaminverschneidung allerdings „Boites aux lettres“. Wer ein bisschen Klettererfahrung hat, weiß, dass so ein im französischen Sprachraum als Briefkasten bezeichneter enger Durchschlupf einen auch mal ein bisschen länger aufhalten kann als erwartet. Rein kommt man in den Briefkasten meistens noch ohne Probleme, über den Schlitz heraus dagegen oft nur mit viel Mühe. Schon ich als M-Brief schaffe es mit dem Rucksack am Rücken nur mit viel Gequetsche, aus dem engen Felsspalt heraus zu queren. Der XL-Brief Peter kann dagegen froh sein dass er sich irgendwann überhaupt noch aus dem Briefkasten heraus geleert bekam, zum Glück noch rechtzeitig vor den Vorstandswahlen.
Nach dem ersten steilen Drittel leitet unsere Route, die „La Directe“, dann über in den weiten Plattenspiegel. Durchzogen ist diese riesige Platte von Rissen in allen Größenklassen, vom Körperriss bis hin zu Fingerrissen. Nur 3-4 Bohrhaken stecken je Seillänge, bei Bedarf kann man aber meist gut mit zusätzlichem Material absichern. Langeweile kommt jedenfalls an keiner Stelle auf. Das Ambiente in dieser riesigen und zu allem Klettererglück kaum abgekletterten Platte ist durchgängig beeindruckend. Nach 16 Seillängen und dem kurzen Abschlusswändchen kann man vom Ausstieg am Grat auf den unter uns schwebenden Plattenspiegel herabschauen bis zum tief unter uns liegenden Solalex. Eine beeindruckende Kletterei liegt hinter uns. Ähnliches dürfte auch Marcel Remy gedacht haben, der Vater der berühmten Remy-Brüder, die Hunderte von Erstbegehungen in den Bergen gemacht haben. 2017 kletterte er im stolzen Alter von 94 Jahren zum 200. Mal durch diese Wand, was sicherlich neben seiner unglaublichen Fitness auch für die Schönheit der Touren dort spricht. Das Video zu dieser Geschichte im Internet kann man jedem empfehlen, nicht nur Senioren, die eine schöne Kletterroute für den nächsten Bergurlaub suchen.
Nach dem steilen Abstieg über Almwiesen, rutschige Wegspuren durch Erlengebüsch und glatte Schieferhalden zurück in Solalex dürfen diejenigen von uns, die das Glück hatten, die Seilschaft vor uns überholen zu können, in der sonnendurchfluteten Wiese liegend zur Platte hochblinzeln. Die zweite Seilschaft trifft dann rechtzeitig zum Abendessen ein.
Nach diesem langen Tag darf es am Abschlusstag etwas Kürzeres sein. Wir entscheiden uns für eine Klettertour in den Gastlosen, die Richtung Fribourg, also mehr oder weniger auf dem Heimweg liegen. Wie in einem Gebiet mit so einem Namen kaum anders zu erwarten, ist hier recht wenig los. Pfadspuren sind nicht durchgängig zu finden beim Zustieg zum steil aufragenden Turm der Jumelle, den wir über den SE-Grat besteigen. Die Tour hat zwar nur sieben kurze Seillängen, die haben aber alle schöne Kletterstellen in bestem Fels. Nach der Schlüsselstelle im 6. Grad steigen wir am Gipfel aus und genießen den Blick auf die von Felskämmen durchzogene Almlandschaft. Vor ein paar Jahren haben wir hier bei einer Klettertour die Gastlosen-Kette überschritten. Markus und Peter waren damals mit dabei und erinnern sich sicherlich an die dortige Boite aux lettres durch einen beeindruckend schmalen Felsdurchschlupf. Nicht immer sind diese Briefkästen der Berge einfach zu bewältigen, trotzdem sind oft das Salz in der Suppe einer guten Klettertour.
Jochen