Prolog
„Klebt der Ski am Berg wie Honig, so ist dies sicher ein Atooomic - ist der Ski am Fels nun Schrott – war´s mein Scott!“
Bis zu dieser launigen, aber doch schmerzlichen Feststellung fiel erstmal noch viel prachtvoller Pulver in die Graubündener Berge, bräunten noch viele goldene Sonnenstrahlen unsere gegerbten Gesichter und blies uns noch reichlich wütender Wind durch die zerzausten Haare.
Wir, das waren Florian K. (Flo, der Jüngere), Andreas (der Unerschrockene), Johannes (der Leidensfähige), Florian B. (Flo, der Erfahrene) und ich, Bernhard (der Trinkfeste). So machten wir uns am Mittwoch nachmittags auf zum Julierpass, um die Haute Route Graubünden zu starten. Und ja, wir waren noch reiselustig und nahezu sorgenfrei; die Pandemie war zwar schon in Europa angekommen, doch die Schweiz und insbesondere Graubünden waren noch nicht betroffen.
Und so saßen wir dann abends, mit der Graubündner Spezialität Capuns (lecker gefüllte Mangoldblätter) und einigen Calanda-Bier gestärkt, im Ospizio La Veduta im Lager. Unter strengen Augen von Flo d.E. sortierten wir unser Material auf das Nötigste aus. Trotz aller Vorfreude und Nervosität schliefen wir dann doch noch irgendwann wie die Murmeltiere - der beruhigenden Wirkung des Schweizer Hopfentranks sei Dank.
1. Etappe: Donnerstag, 05. März 2020 / Julierpass - Jenatschhütte
Eine fünftägige Durchquerung von Hütte zu Hütte Anfang März ist nichts für Langschläfer. Und so schauen fünf bärtige Gesichter, morgens um 8 Uhr fertig abmarschbereit, noch etwas nicht ganz frisch in die weiße Landschaft des Julierpasses. Wir wollen eigentlich von Ospizio über die Fuorcla d´Agnel (2.982m) zur Furocla da Flix (3.065m), weiter zur Tschima da Flix (3.315m) und über das Valdret Calderas zur Jenatschhütte. Ja, eigentlich (diese Phrase wird auch ein stetiger Begleiter der nächsten Tage sein), denn nun war das Wetter mies, die Sicht schlecht und ein ruppiger Wind bläst kleine Schneekristalle in unsere noch müden Augen.
Zum Auftakt unserer Haute Route müssen wir gleich durch den ca. 40 hohen Neuschnee auf die Fuorcla d´Agnel spuren. Ja, eigentlich wollen wir zur Tschima da Flix: Bei immer stärker werdendem Wind und mangels Sicht und Hoffnung auf Wetterbesserung sind wir uns schnell einig über Plan b, direkt zur überschaubar belegten Jenatschhütte abzufahren.
Nach 3,5 Stunden und 950 Höhenmeter, der Wind hatte uns schnell vorangetrieben, sitzen wir dann bei Ovomaltine und Kuchen in der warmen Hütte. Rastlos und ungeduldig stürzen sich Flo d.J., Andreas und Johannes erneut ins stürmische Schneegestöber Richtung Tschima da Flix. Entspannt „stürzen“ Flo d.E. und ich uns erst mal ins vermeidlich gemütliche Matratzenlager. Erstaunt stelle ich – in der Daunenjacke mit zwei Wolldecken umhüllt – fest, dass der aus meinem Helm gefallene Schnee auf dem Holzboden vor meinem Lager gar nicht schmilzt. Schnell wird klar, warum der Hüttenwirt uns mit allen sechs weiteren Hüttenbesuchern in ein einziges Lager gelegt hat.
Mindestens genauso durchgefroren wie wir aus dem Lager, kommen dann die Jungs nach rd. 2 Stunden von ihren Schneespielen wieder rein. Um uns wieder aufzuwärmen, nehmen Johannes und ich noch einen besonderen Service dieser Hütte in Anspruch – eine Sauna auf 2.653 Metern in den einsamen, verschneiten Graubündener Bergen. Diese Vergnügen, insbesondere „nackt im Wind“ um die Hütte herum in die Außensauna zu flitzen, kann ich nur jedem empfehlen, der die GR-Haute Route angeht.
2. Etappe: Freitag, 06. März 2020 / Jenatschhütte – Chamanna d´Es-cha
Es ist sau kalt – aber dafür scheinen uns um sieben Uhr schon die ersten Sonnenstrahlen mitten ins Gesicht. Hier ist es wieder, das „Ja, eigentlich“: Lawinenlage 3 mit starkem Wind durchkreuzen unseren Plan a über den Piz Laviner (3.137m) und durch das Val Mulix nach Preda (1.789m) abzufahren. Plan b hatten Flo d.E. und Andreas schon ausgemacht. Wir wollen über die Fuorcla Suvretta gehen und nach Sankt Moritz abfahren.
Der Schnee ist pulverig und unberührt, als wir von der Hütte erstmal kurz ins Val Beverin abfahren, um dann Richtung Fuorcla Suvretta wieder aufzusteigen. Der Wind ist fast weg. Es herrscht eine himmlische Ruhe und Einsamkeit, als wir eine neue Spur durchs Trauntertal hinauf legen. Ab 2.600m ändern sich die Verhältnisse schlagartig, und da ist es wieder das „Ja, eigentlich“:
Wir brechen mit einem wehmütigen Blick auf die nahe Fuorcla Suvretta auch unseren neuen Plan ab und fahren – gleichsam im unberührten Pulver schwebend – durch das Tälchen wieder runter. Nun also Plan c: Uns bleibt nur der „Notausgang“ über das Val Beverin. Jetzt zahlt sich vorausschauende Planung und unser früher Start aus. Bis nach Spinas sind es fast 10 km, es zeigt sich schnell, dass von Abfahrt durch das flache Tal bei dem vielen Neuschnee keine Rede sein kann. Die Schieberei in der Sonne artet jetzt für alle zu einem saunaähnlichen Unterfangen aus. Obwohl das Team den „Belgischen Kreisel“ tapfer übt, die Nachfahrenden den Führenden versuchen Mann um Mann zu überholen, kommen wir langsam voran. Gespräche über das individuelle Trainingsverhalten im Hochwinter gehen langsam in schweigendes Stoßatmen über.
Freudesteigernd bis zum Platzen der Oberschenkel wirkt sich dann die bekannt herzlich, aber bestimmte Ansage von Flo d.E. aus, dass jetzt die Bummelei ein Ende haben müsse, um am Bahnhof Spinas 2 Stunden Wartezeit zu vermeiden. Beim Umsteigen in Samedan gelingt dann sogar noch der Einkauf von Rivella und Sandwichs, so dass wir eine gepflegte Mittagspause im Zug einschieben können.
In Madulain angekommen schnallen wir wieder unsere Skier unter die Füsse, um auf die Chamanna d´Es-cha aufzusteigen. Es ist schon 13:30 Uhr, weitere 1.000 hm sind zu bewältigen, aber wir sind wieder erholt. Obwohl noch offen und einladend, passieren wir die Alp Es-cha Dadour ohne Einkehrschwung. Wir laufen weiter und nuckeln die letzten Tropfen aus unseren Thermosflaschen. Im letzten Aufschwung zur Hütte sehen wir sie dann zum ersten Mal, eine 6er Gruppe vor uns, ebenfalls im Aufstieg. Während wir noch vom Ausflug Schweizer Sportstudentinnen auf der vor uns liegenden Hütte träumen, sitzen unsere neuen Bergfreunde, schon beim Schafkopf-Spielen auf der Hütte. Die lustige Gruppe von sechs bärbeißigen Bayern werden wir auf den nächsten 3 Hütten immer wieder treffen.
Auf der durch den Umbau leicht eingeschränkten Chamanna d´Es-cha tummelt sich darüber hinaus auch noch eine Fünfergruppe französischsprachiger Bergliebhaber mit einem spanischen Bergführer. In der warmen Stube wird alles über dem einen Holzofen getrocknet – damit beginnt ein lustiges Verwirr- und Verwechslungsspiel mit Socken, Jacken und Fellen zwischen den drei Gruppen. Den durstigen Bayern und uns gelingt es schon vor dem Abendessen die dürftigen Weißbiervorräte des netten jungen Hüttenwirts aufzubrauchen. Nach üppigem Spagetti-Essen, welches wir dann mit nicht zu wenig Schweizer Gerstensaft hinunter spülen, sind unsere Kohlenhydrat- und Elektrolytspeicher wieder randvoll.
3. Etappe: Samstag, 07. März 2020 / Chamanna d´Es-cha - Keschhütte
Mit wieder frischem Neuschnee vor der Hütte zeichnete sich am Morgen ein regelrechtes Pokern um den Start zwischen den drei bergerfahrenen Gruppen ab. Alle sind fertig, keiner will als Erster durch den stetigen Schneefall zur Porta d`Es-cha spuren. Mit Blick aus dem Fenster ins diffuse Grau und der Prognose von Wetterbesserung verschieben alle den Abmarsch nach hinten auf 8 Uhr und halten sich an ihren Kaffeetassen fest.
Als der spanische Bergführer mit seiner Gruppe als erster loszieht, hängten sich die bayrischen Buam und wir direkt an. Auf halbem Weg zur Porta übernehmen dann die Bayern die Führungs- und Spurarbeit. Vor der Querung zum Durchstieg darf dann wieder Andreas mit seinen breiten Latten den frischen Schnee platt treten, bevor Flo d.E. dann durch tiefen Schnee den Fußaufstieg zur Porta freiräumt, die wir anderen dann mit Ski am Rucksack und Pickel in der Hand seilfrei meistern.
Die angesagte Sonne sieht anders aus, denken wir uns nach dem kurzen Abstieg im stürmischen Whiteout auf dem Kesch-Gletscher. Wir lassen uns aber weder von stürmischem Wind, null Sicht noch vor dem Abbruch der Gipfelambitionen der anderen beiden Gruppen entmutigen und machen uns unverdrossen zu fünft am Seil auf den Weg Richtung Piz Kesch – in Erwartung der angekündigten Wetterbesserung. Komplett ohne Sicht führt uns Flo d.E. mittels GPS-Navigation zum Skidepot Pia Kesch. Bei ruppigem Wind entscheiden wir uns auf das angekündigte besseres Wetter zu warten – gemütliches Teedrinken auf rd. 3.250 m Höhe ist das nicht. Doch der beste Aussichtsberg Graubündens bleibt uns verwehrt, eine Winterbesteigung bei Sturm, viel Neuschnee und ohne Sicht wäre wohl keine allzu gute Idee.
Immerhin wird die Sicht bei der Abfahrt über den Gletscher zur Kesch-Hütte immer besser, so dass wir den knietiefen Powder auch richtig feiern können. Nach einem Salto im Tiefschnee von Flo d.E. und versöhnt mit diesem abwechslungsreichen Tag in den weißen Bergen laufen wir mit einem fetten Grinsen in der schon gut belegten Hütte ein. Mit Suppe und Monsteiner Bier gestärkt, zieht uns das besser werdende Wetter geradezu magisch nochmal hinaus. Auf fast 3.000m Höhe erreichen wir südlich der Fuorcla Porchabella einen Kessel. Jodelnd und jauchzend stürzen wir uns erneut in den Pulver und erneut zur jetzt schon vollen Hütte hinab.
Reto, der nette und hilfsbereite Wirt und einige weitere Monsteiner Biere helfen uns die kleinen Essensportionen und die z.T. hasigen Hüttengespräche der Nachbarn gelassen zu nehmen. Mit 1.250 Hm in den Beinen und unzähligen Eindrücken aus unserem 6stündigen Bergabenteuer schlafen wir dann geruhsam im eigenen Lager.
4. Etappe: Sonntag, 08. März 2020 / Keschhütte – Grialetschhütte
Es ist Sonntag. Nach einer sternenklaren Nacht, ist es sonnig und Lawinenlage 2. Flo der E. und Andreas haben ausnahmsweise einen neuen Plan. Wir wollen über eine unbekannte Scharte östlich der Keschhütte aufsteigen und nördlich durch eine Kessel zur Alp Funtana abfahren, um den Abfahrtsanteil zu steigern. Bei bestem Wetter und ebensolcher Laune erreichen wir durch feinsten Pulverschnee spurend die Scharte auf 2.943m. „Ja, eigentlich“, da ist es wieder: Oben blicken wir reichlich verdutzt auf ein komplett windverblasenes Felsgelände. Also erneut Plan b – warum nicht einfach die tollen Powderhänge wieder abfahren!? So schwingen wir flugs die traumhaften Pulverschneehänge zurück Richtung Keschhütte und biegen oberhalb schon ab ins Val Funtana.
An der Alp Funtana lässt Johannes verdächtig lange auf sich warten. Endlich bei der Gruppe angekommen, zeigt er reichlich geknickt seinen Ski vor. Mit einem Pickel hämmern wir die herausgerissen Kante wieder notdürftig zurück. Sekundenkleber gibt dem einseitig gebrochenen Ski wieder etwas Halt. Nach dem der Belag ausgebessert und der Ski wieder abgezogen ist, steht die Sonne schon hoch an Himmel und uns der Schweiß im Gesicht. Daher entscheiden wir uns, der bayrischen Gruppe über Vallorgia direkt Richtung Piz Grialetsch zu folgen, statt über den Scalettapass selbst zu spuren.
Auch den stark eingeschneiten und überwächteten Piz Grialetsch lassen wir links liegen, um von der Fuorcla Vallorgia anschließend in feinstem Pulver abzufahren. Kurzerhand wird die Original-Route aufgrund der traumhaften Schneeverhältnisse verlassen um im Pulver bis unter die Hütte abzufahren statt zur Hütte zu queren. Während Johannes mit seinem Skihandicap mit Flo d.E. direkt zur Hütte aufsteigt, gönnen Flo d.J., Andreas und ich uns noch einen weiteren Aufstieg Richtung Fuorcla Sarsura. Doch der viele Tiefschnee hatten einige Körner gekostet und wir starten unsere 3. Powderabfahrt an diesem langen Tag noch ein ganzes Stück unter der Fuorcla.
Bei genialem Kassler mit Bohnen und Bandnudeln in der (fast leeren) Grialetschhütte schwelgten wir am Abend in Gedanken an sieben Stunden Sonne im Tiefschnee mit mehr als 1.400 Hm rauf und über 1.500 Hm runter.
5. Etappe: Montag, 09. März 2020 / Grialetschhütte – Julierpass
Wieder haben wir einen guten Plan – und wieder kommt alles anders. Wir wollen über die 2.921m hohe Fuorcla zum Piz Sarsura und dann als krönender Abschluss von 3.175m bis Crastatscha (1.400m) abfahren. Doch über Nacht hat sich das Wetter erneut verschlechtert. Von der Hütte in den Talkessel ein weicher Blindflug mit Schwindelgefühlen im Pulverschnee, im Aufstieg sehen wir kaum unsere Spur vom Vortag. Und auch unser alter „Freund“, der Wind kommt mit aller Macht zurück und bläst uns fast aus der Scharte.
„Ja, eigentlich“: Da die Verhältnisse stetig schlechter werden entscheidet Flo der E. ausnahmsweise mal eine Planänderung und auf kürzestem Wege über das Val Pülschezza nach Prazet abzufahren. Die zwischenzeitlich ebenfalls zu uns aufgestiegenen bayrischen Bergkameraden schließen sich uns an und so hatten Flo d.E. die herausfordernde Aufgabe uns alle ohne Sicht aber mit GPS ins Tal zu bringen. Andreas fährt voran, ständig vom laut rufenden Flo d.E. dirigiert – alle anderen folgen in möglichst kurzem Sichtabstand. Ab 2.500m haben wir dann wieder leidlich Sicht, kurz auf einem steileren Hang mit wenig spaßigem Bruchharsch. Weiter unten und windgeschützt ist dann auch unser geliebter Powder wieder da. Da macht auch eine enge Waldabfahrt wieder Freude.
Nach knapp drei Stunden und 1.620 Hm Abfahrt beendeten wir schließlich unsere fünfte letzte Etappe der Graubündener Haute Route an einer Bushaltestelle in Prazet. Mit dem Bus nach Zuoz, dann mit der Bahn nach Sankt Moritz und dem Taxi auf den Julierpass. Alles geht so schnell, so dass es sich an den Autos angekommen immer noch komisch anfühlt, nach fünf Tagen erstmals wieder keine Skier an den Füßen zu haben.
Unser kongeniales Trainerduo hatte eine herausfordernde Haute Route für uns geplant. Eine oft ganz andere, großartige Durchquerung ermöglicht, und uns mit viel Erfahrung und guten Entscheidungen sicher durch die oft sehr rauen Berge wieder froh und gesund zurückgebracht. So machten wir uns auf den Heimweg – zurück in eine Welt, die mit jedem Tag eine andere werden wird. Doch wir alle behalten uns diese herrlichen Momente als Bilder im Kopf - in inniger Vorfreude auf den nächsten Winter.
Bernhard Schinzel