Wenn die Wettergötter bei ihrer Wochenendplanung im Karlsruhe Alpin blätterten, stießen sie in den letzten Jahren ab und zu auf die Ausschreibung einer Klettertour im Argentièrekessel.
Letztlich ging ihre Wetterplanung immer in eine andere Richtung, die Touren mussten wegen Schlechtwetter verschoben werden oder fanden an Ausweichzielen statt. Im diesem Jahr stand die Tour erneut zur Wiedervorlage im Heft, und endlich sah es tatsächlich so aus, als ob es dieses Mal klappen könnte.
Zwei Teilnehmer ereilte vor der Tour leider das Verletzungspech. Mit Ursel und Andi, dazu noch Axel Schlönvogt macht sich dann aber doch ein kleines, feines Team bei schönstem Wetter in Argentière auf, um die ersten 750 Höhenmeter zur Lognan-Mittelstation bequem mit der Grands Montets-Seilbahn zurückzulegen; der Weiterweg über den Gletscher sollte noch weit genug sein. Die schweren Rucksäcke sind gut gefüllt. Zelt, Schlafsack, Essen, Kocher, Hochtourenausrüstung und üppiges Klettermaterial für bohrhakenfreie Trad climbing-Routen im rötlichen Hochgebirgs-Granit wollen nach oben befördert werden.
Die Berge um den Argentière-Gletscher formen mit ihren bis 1000m hohen Nordwänden den vielleicht spektakulärsten Gebirgskessel der Alpen. Abgesehen von der schon recht anspruchsvollen Aiguille Argentière ist vieles davon davon Terrain für Topbergsteiger, eines der letzten Ziele, in dem noch hohe Nordwände möglich sind, obgleich auch hier der Klimawandel dazu geführt hat, dass sich vieles auf das Winterhalbjahr verschoben hat. Für Genussbergsteiger gibt es glücklicherweise oberhalb der Argentière-Hütte zwei kleine Traumtouren, die den unteren 6.Grad nicht übersteigen und so schön sind, dass sie den Weg in verschiedene Auswahlführer gefunden haben.
Der erste Teil des Anstiegs auf dem Gletscher ist noch recht flach. Anstrengender mit den schweren Rucksäcken sind die langen Leitern, die die seitlichen Gletscherschliffplatten emporführen, um den weiten Gletscherbruch zu umgehen. Am Ende der Seitenmöräne führen keine Leitern nach unten. Man muss über steiles spaltendurchzogenes Gelände absteigen, um den Gletscher überqueren zu können. Nach ein paar Stunden Zustieg sind wir am Ziel angekommen und finden am Gletscherrand ein schönes, sonniges Plätzchen neben der Moräne mit Sicht auf die mächtigen Nordwände von Aiguille Verte, Droites und Courtes.
Die Gaskocher fauchen gemütlich beim Schneeschmelzen und Ursel zaubert aus frischen Oliven, Pesto und Speck ein leckeres Nudelgericht. Nachdem der Tourenablauf besprochen ist, wird es auch schon bald Abend und wir kriechen in die Zelte, gespannt auf das, was der kommende Tag an Erlebnissen bringen wird.
Obwohl die Zelte auf Eis und Schnee stehen, haben wir eine angenehme, nicht zu kalte Nacht. Nach dem Frühstück steigen wir die Moräne hoch zur Argentièrehütte und dem Einstieg unserer Route „Gateau de Riz“ an der Aiguille de Refuge, deren Name an ein Lucky Luke-Comic erinnern soll. Im Vergleich zu den Bergiganten um uns herum sind die 250m hohen Massive oberhalb der Hütte klein und ihre Gipfel nicht in der Karte eingezeichnet. So dauert es eine Weile, bis wir den richtigen Wandabschnitt gefunden haben. Am Einstieg fallen ein paar winzige Schneeflöckchen vom Himmel, die uns an unsere hochalpine Lage erinnern, es bleibt dann aber trocken. Nach einer 4c zum Warmklettern kommt schon bald die berühmte namensgebende Rissschuppe, auf der man ein kurzes Stück im Reitersitz nach oben robbt, ähnlich Lucky Luke auf seinem Pferd. Die Stände sind zum Teil mit Bohrhaken ausgerüstet, ansonsten muss alles mit Friends und Keilen abgesichert werden. Wunderbare Risse bis 5c führen uns nach oben zum Ausstieg, wo man kaum aus dem Staunen herauskommt angesichts der gegenüberliegenden Berggiganten. Eigentlich ist noch ein Abstecher in einen weiteren Klassiker, die Verschneidung „Dièdre Central“ geplant. Aufkommende Schauer machen den Plan aber zunichte und so statten wir der gemütlichen Argentière-Hütte einen Besuch ab, genießen bei einem Kaffee den Blick aus den großen Fensterfronten auf die Umgebung und staunen über das berühmte Gletscher-Motorrad auf dem Dach der Hütte, das vor vielen Jahren tatsächlich auf dem Gletscher als Liftersatz für Skifahrer auf dem Gletscher im Einsatz war.
Über Nacht verzieht sich die Bewölkung und es wird ein gutes Stück kälter als in der Nacht zuvor. Die Rucksäcke und sonstige Ausrüstung vor dem Zelt sind noch mit Raureif bedeckt, als wir am nächsten Tag zu unserer zweiten Klettertour starten. Der Südgrat an der Aiguille Génépi überrascht schon nach ein paar Metern mit einem kniffligen Querung in ein steiles Wändchen. Gleich mal ein Kaltstart also. Immerhin ist man am Stand darüber dann in der Sonne, was allerdings schnell dazu führt, dass der Raureif auf dem Helm schmilzt und mir in den Nacken läuft. Die zweite Seillänge bietet nochmal eine 6- an einer schönen Rissverschneidung und endet mit einer Querung an einem großen Kristallband. Die Route ist noch traditioneller als die vom Vortag ausgerüstet und hat lediglich einen einzigen Bohrhaken, der Rest muss komplett abgesichert werden. Er steckt am Stand unterhalb eines beeindruckenden Pfeilers. Von unten sieht das recht abweisend aus, zum Glück lassen sich auch dort ab und zu Keile legen, um keinen Stress aufkommen zu lassen. Vor dem Abseilen gibt es ein Selfie mit glücklichen Klettern und Nordwänden im Hintergrund, bevor wir uns an den langen Rückmarsch machen. Dieses Mal folgen wir der offensichtlich öfter begangenen Route direkt durch die Gletscherbruchzone. Die Spur durch große Spaltensysteme ist beeindruckend, mit etwas Vorsicht aber nicht heikel. Wenn man bedenkt, dass dies quasi der Hüttenweg ist, wird einem nochmal bewusst, in was für einer wilden Westalpen-Ecke wir hier unterwegs sind. Nicht viel später ist der Übergang vom Gletscher zum Wanderweg erreicht. Ab hier sind wir mit Scharen von Wanderern und Touristen unterwegs zurück zur Seilbahn. Im Gedränge der Seilbahn sind wir in Gedanken noch im Argentierekessel und denken an das alpine Gesamterlebnis zurück, das wir dort erleben durften. Wir kommen bestimmt mal wieder hierher zurück, sei es für eine Skitour zur Aiguille Argentière oder eine andere Traumtour im Hochgebirgsfels.
Jochen Dümas