Wie sich Gletschernovizen weiße Welten erschließen
Ja, wir könnten jetzt auch einen ausgewachsenen Braunbären aus einer Gletscherspalte retten! Wir, das sind acht Gletschernovizen des Karlsruher Alpenvereins, die unter Anleitung von Georg, Ulrike und Erik den Basiskurs auf dem Steingletscher im Kanton Bern erfolgreich absolvierten. Und nein, wir wollen hier niemandem einen Bären aufbinden. Vielmehr ist es so, dass die Nachricht, dass sich rund um unser Quartier, seit Tagen ein hungriger Bär herumtreibt, uns mindestens so elektrisiert hat, wie die „lose Rolle“, der Mannschaftszug oder die Selbstrettung.
Unser Quartier, das war die Schweizer Tierberglihütte auf einer Felskanzel in 2.800 Metern Höhe unterhalb des Sustenhorns.
Es ging schon ans Eingemachte in den vier Tagen im Berner Oberland an der Grenze zum Kanton Uri. Schwitzen im Schneetreiben und bei Minusgraden – ein Dauerzustand. Ein ums andere Mal Eisschrauben setzen, da werden die Finger erst ganz kalt und dann sehr heiß. Erst als die Rettungsmethode „lose Rolle“ bei allen saß, gaben sich die Trainer zufrieden und uns eine Hüttenpause. In rekordverdächtigen zwölf bis siebzehn Minuten zogen alle Teams den abgestürzten Kameraden aus der Spalte. Was anfangs kompliziert schien: den Pickel als T-Anker vergraben, Bremsknoten im Seil lösen, Prusikknoten mit Sackstich kurz abbinden und eine Rücklaufbremse am richtigen(!) Seil befestigen – nach zwei Abenden in der Kletterhalle und dem Training vor Ort saß das am Ende bei allen.
Kein schlechtes Gefühl, wenn man sich wie die meisten zum ersten Mal auf „ewigem Eis“ bewegt. Zugegeben: mal mehr mal weniger geschmeidig. Denn das Wetter meinte es Anfang Juli „gut“ mit uns: Es war so schlecht, dass der Trainingseffekt sich verdoppelte. Lose Rolle bei Sonnenschein – schon nicht gerade ein Klacks. Lose Rolle bei Schneefall und im frischem Powder? Mindestens eine Herausforderung. Von der Selbstrettung gar nicht zu reden. Die wird angewendet, wenn in einer Zweier-Seilschaft einer in eine Spalte fällt. Während sich der Gefallene am gespannten Seil per Prusiktechnik und Selbstflaschenzug in Richtung Spaltenkante hocharbeitet, muss der Kamerad den Sturz halten. Münchhausen lässt grüßen. Außerdem gabs noch den Mannschaftszug zu lernen für Seilschaften mit vier und mehr Teilnehmenr. Da geht man dann abends auch mal freiwillig vor Sonnenuntergang ins Hüttenlager.
Der Fall in die Spalte, für Novizen sicher ein Horror-Szenario, hat sich nach diesem Intensivkurs zumindest relativiert. Nicht weil es nicht gefährlich wäre. Immerhin hat es dann doch einige Teilnehmer zumindest hüfthoch in kleinere Spalten und Untiefen gezogen. Sondern, weil dank technischer Fertigkeiten Risiken eingegrenzt werden. Dazu muss man aber gewillt sein, sich zuvor zu Übungszwecken mindestens 20 Mal auf steilem Schneefeld und wenns sein muss kopfüber gen Tal zu stürzen. Um dann im Ernstfall möglichst schnell in die Liegestützposition zu kommen und die gefährliche Rutschpartie zu stoppen. Und zwar ohne sich mit den Steigeisen Gliedmaßen zu zerschneiden oder sich das Sprunggelenk zu verdrehen. Bevor jemand fragt: Ja, das gibt blaue Flecken. Aber es ist die Mühe wert.
Denn gefragt, warum man sich das antut, muss man dann nicht lange überlegen: Wer in den Bergen viel unterwegs ist, wird irgendwann an weiße Grenzen stoßen: Gletscher - so lange sie es noch gibt - stellen eine natürliche Barriere dar, die ohne technische Kenntnisse und Ausrüstung unüberwindbar ist. Zumindest, wenn man nicht lebensmüde ist. Wer aber die Technik beherrscht, dem erschließen sich dort oben im Eis fantastische neue Welten. Nur einen kleinen Eindruck davon haben wir acht einstigen Gletschernovizen in diesem Kurs bekommen. Es warten noch viele neue weiße Universen und Abenteuer auf uns! Ach so, es sei denn dieser Bär...
Aber wie der auf Blankeis auf steilem Gletscherabschnitt ins Rutschen geriet und mit seinem Hintern breite Bremsspuren auf dem Eis hinterließ, das ist eine andere Geschichte. Nur Erik war davon überzeugt, dass diese Spuren von einem Skifahrer stammen. Alle anderen waren sich sicher: Dieser Bär muss nach seiner vermutlich ungewollten Gletscherpartie mindestens genauso viele blaue Flecken haben wie wir.
Christina Zäpfel