Unsere Touren in den Bergen fügen sich in der Erinnerung manchmal zu einer jahrelangen, immer wieder unterbrochenen Reise durch die Alpen zusammen. Bei dieser Reise gibt es Traumziele, Lieblingsziele und nahe liegende, gut erreichbare Ziele. Immer wieder mal möchte man dabei seinen alpinen Horizont erweitern und eine Bergregion ansteuern, die man noch nicht kennt. Die Berchtesgadener Alpen waren so ein weißer Fleck im Tourenbuch und standen schon lange auf meinem Wunschzettel, gehören sie für Kletterer doch, zusammen mit dem Wilden Kaiser und dem Wetterstein zu den bedeutendsten Gebirgsgruppen im deutsch-österreichischen Grenzgebiet. Die unzähligen Klettermöglichkeiten in perfektem Fels machen sie fast zu so etwas wie den Urner Alpen Deutschlands. So verwundert es nicht, dass hier Spitzenbergsteiger wie die Huaberbuam wohnen und wir bei unseren Touren Menschen wie den plattdeutsch sprechenden Hamburger treffen, die sich ihren Bergtraum wahr gemacht haben und gleich ganz dorthin gezogen sind. Mit Ramsau findet sich hier auch das einzige offizielle Bergsteigerdorf Deutschlands.
Bei der Planung war Ende August schon eher an etwas kühlere Temperaturen und somit südseitige Kletterziele zu denken. Als wettergeplagter Bergfreund wagt man kaum noch auf eine gute Wettervorhersage zu hoffen, in diesem Fall aber drohte leichtes Ungemach von der angesagten Hitze bis über 30°C, die unsere Kletterträume auf heißem Stein zu verbrutzeln drohte. Der zu Ehren der 900-Jahrfeier von Berchtesgaden erschlossene Jubiläumsweg am Hohen Göll erwies sich unter diesen Umständen als gutes Ziel für den ersten Tag. Mit einer knappen Stunden Zustieg ist er rasch erreicht, die Sonne erreicht die Westwand erst nach 15 Uhr und man kann jederzeit abseilen, wenn die Zeit knapp wird. Zum Glück brachten wir die lange Anfahrt ohne größere Staus hinter uns und trafen uns an der Scharitzkehlalm mit Laura und Markus, die von der Schwäbischen Alb und dem Kleinwalsertal aus anreisten.
Der Einstieg der Tour inmitten des gewaltigen Kessels der Göllwände war leicht zu finden, ein liebevoll gestaltetes, handgemaltes Keramikschild markiert den Start. Die erste, 50m lange Seillänge erweist sich mit ihrer 5+-Bewertung gleich als kleine Knacknuss: Glatte Wasserrillenkletterei mit zwei kurzen Steilaufschwüngen in unglaublich kompaktem Fels; hier wird man nur mit der richtigen Kombination aus Reibung, Stemmen, Fuß- und Daumenklemmern richtig glücklich. Die Absicherung mit Bohrhaken ist prinzipiell gut, aber doch manchmal mit recht weiten Abständen, so dass man ab und zu den Routenverlauf kurz suchen muss. Eine zusätzliche Absicherung ist nur selten möglich. Am zweiten Stand treffen wir Ines Pappert, die nicht weit von hier zu Hause ist. Nicht dass unsere Route für diese Spitzenalpinistin eine Herausforderung wäre. Sie ist beim Abseilen und schwebt aus den himmelhohen Wänden rechts oberhalb herab. Im Gegensatz zu ihr macht ihr Kletterpartner, für uns nachvollziehbar, einen leicht müden Eindruck nach zwei Tagen in einer langen Tour im 10.Grad. Wenige Wochen später berichtet das DAV-Panorama über ihre Neutour, unsere Hitzebegehung gleich nebenan wird dabei natürlich verschwiegen.
Die Schlüsselseillänge ist mit 6- bewertet und führt über steile, durchlöcherte Platten. Von unten sieht es richtig schwer aus. Mit guter Fußarbeit und den kleinen, aber scharfen Grifflöchern löst sich aber alles gut auf. Inzwischen ist die Sonne in die Wand gekommen und beginnt den Fels zu wärmen. In den letzten der 12 Seillängen bekommen wir ihre Kraft richtig zu spüren. Die abschließende Länge durch eine ausgewaschene Verschneidungsrinne soll nur noch 3+ sein. Sie fühlt sich aber deutlich schwieriger an, was sicherlich auch an der Wirkung der Hitze liegt. Bis wir in der Abendsonne abgeseilt und zurück an der Alm und dem Parkplatz sind, ist es spät geworden. Eigentlich war eine Übernachtung im 20 km entfernt gelegenen Campingplatz in Ramsau vorgesehen. Bei all den Bergwänden um uns herum, den weidenden Kühen und dem kleinen Bach vor uns sind wir uns aber schnell einig, dass wir hier bleiben möchten. Kurz in den Gumpen des träge fließenden Bachs abgekühlt und gewaschen, das gleiche mit den Getränkeflaschen gemacht. Bald schon schnurren die Gaskocher mit Spaghetti und der Sternenhimmel zieht auf. Man braucht an solchen Tagen nicht viel zum glücklich sein.
Am nächsten Morgen müssen wir nicht weit fahren, kurz Richtung Obersalzberg mit den Resten der unseligen deutschen Geschichte der Hitlerzeit, und dann nach Unterjettenberg. Ab der Mitterkaseralm geht es auf einem schmalen Jägersteig zum Wandfuß des Hohen Bretts (2341m). Erst im zweiten Anlauf finden wir den Einstieg unserer Route Abenteuerland. Schon der Name deutet das spezielle Erlebnis an, das uns hier erwartet. Bis zur 6. Seillänge einfach eine gute Klettertour wie viele andere auch. Dann verschwindet die Route 60m lang in der felsigen Erde und taucht erst zwei Seillängen später wieder aus der stellenweise glitschigen halbdunklen Schachthöhle in das gleißende Sommerlicht aus. Es heißt manchmal, der Mensch steigt in Höhlen, weil es ihn an seine Zeit in der Mutterhöhle erinnert. Ob da etwas dran ist, kann jeder selbst entscheiden. So ein vertikaler Höhlenspaziergang ist jedenfalls ein guter Anlass darüber nachzudenken. Es ist zugegebenermaßen ziemlich dunkel und feucht darin. Man möchte wissen, wie es draußen in der Sonne weitergeht, und man hat diese Schnur auf Bauchnabelhöhe. Wenn man sich dann im glitschigen Dachüberhang anstrengend an alten Bandschlingen nach oben zieht und der Schacht oben zu, kurz vor der 6er-Passage, immer enger wird, können einem als Kletterer und Mensch schon Gedanken kommen, wie es damals war, ob wir auch damals hängen mussten oder es onsight heraus geschafft haben.
Wieder draußen im Sonnenlicht übernimmt Laura elegant den Vorstieg der letzten drei Seillängen. Kurz vor dem Ausstieg helfen wir noch einem entkräfteten Pärchen, dem in der letzten Seillänge der passenderweise „Sommer, Sonne, Sonnenschein“ benannten Nachbarroute Wasser, Kräfte und Mut ausgingen und werfen ihnen vom Ausstieg unser Seil entgegen. Dann stehen wir schon bald auf dem landschaftlich beeindruckenden Gipfelplateau und wandern zufrieden zurück ins Tal.
Am letzten Tag ist das Wetter etwas kühler angesagt und leicht bedeckt, so lässt sich der morgendliche dreistündige Zustieg zur Blaueishütte und unserer Tour bei angenehmer Kühle verbringen. Die Hütte ist berühmt für ihre Lage in einem grandiosen Felskessel und die Größe ihrer Kuchenstücke, die manchem bald größer erscheinen als die Reste des Blaueis-Gletschers, bislang noch der nördlichste Gletscher der Alpen.
Wir haben uns die Route „Die Glorreichen Sieben“ an der Schärtenspitze (2610 m) vorgenommen, nahe am Zentrum des Kessels gelegen. Der in den meisten Topos noch mit 4+ bewertete Einstieg über eine steile Rissverschneidung gibt einen ersten Hinweis, dass man sich die Kuchenstücke hier am Berg hart erarbeiten muss. Die Seilschaft vor uns sieht keine Chance für die folgenden 6er-Seillängen und seilt wieder ab. Peter muss sich ihnen anschließen, nachdem er sich am ersten Tag an der Ferse verletzt hat und nur unter Schmerzen klettern kann. Die zwei nebeneinander liegenden seichten Wasserrillen der schönen Schlüsselseillänge (6+) lassen sich dann zum Glück einigermaßen elegant über Riss- und Verschneidungstechnik lösen. Bei Dieter löst sich allerdings erst mal die Sohle der Kletterschuhe auf, wodurch der Klettergenuss für ihn etwas gehemmt wird. Oben zu wollen auch Andi, Laura und Markus vorsteigen. Der Abstieg zur Hütte ist dann rasch erledigt. So sitzen wir dann bald wie erträumt bei Hüttenkuchen, Frucht-Buttermilch und Kaffee in der Sonne vor der Hütte, genießen den Blick auf die Berge und unsere Route, bevor es wieder hinunter ins Tal geht, wo wir uns vor der Heimfahrt erst mal im kalten Wasser des Hintersees abkühlen. Mal schauen, welchen weißen Fleck im Tourenbuch wir als nächstes füllen können mit Bergerlebnissen.
Jochen Dümas