Schon mehrfach in den vergangenen Jahren standen alpine Klettertouren um die Argentiere-Hütte im Sektionsprogramm, sei es als Frühlingstour mit Zustieg per Tourenski oder im Sommer. Bisher hatten die Wettergötter aber kein Einsehen bei der Wetterzuteilung und die Touren mussten trotz mehrfacher Versuche letztlich jedes Mal abgesagt werden.
Auch dieses Jahr machte uns das Wetter am vorgesehenen Termin Ende Juni ein Strich durch die Rechnung. Eine Woche später sah es besser aus, die Hütte war aber ausgebucht. Zum Glück gibt es im Mont Blanc-Gebiet genügend Ausweichziele. Und so machten wir uns Freitag früh auf Richtung Chamonix, um bei Vallorcine, einige Kilometer nach der französischen Grenze, eine erste Klettertour anzugehen. Der Zustieg zur Route führt zunächst an einem Wasserfall vorbei und dann 1,5 h in den wildromantischen Bérard-Kessel hinein. Angesichts dieser Landschaft kein Wunder, dass unser Ziel vom legendären Erstbegeher Michel Piola den Namen „Into the wild“ bekommen hat. Die Route führt gut gesichert durch den unteren Wandteil des Mont Oreb (2634m). Zum Gipfel wären es vom Ausstieg noch mehrere Hundert Höhenmeter, in deutlich alpinerem und wilderem Terrain.
Am Einstieg angekommen sehen ein paar junge Steinböcke keine Veranlassung, vor uns zu flüchten. So legen wir uns nur 5m von den Tieren entfernt unsere Klettergurte an. In zwei Dreier-Seilschaften machen wir uns auf den Weg. Conny und Alex sind bei mir am Seil, Alvaro klettert mit Peter und Ester, wobei Ester gleich mal den ersten Vorstieg übernimmt.
Obwohl keine der 9 Seillängen leichter als 5+ ist und 3 Seillängen im Bereich 6+ und 7- , handelt es sich um eine human bewertete Plaisir-Tour, die genussvoll über Platten und kurze Steilaufschwünge führt. Lediglich ein senkrechtes Wändchen in einer 6a, in dem sich der erste Haken oberhalb des Stands nur von einem schlechten Griff aus klinken lässt, und die Schlüsselstelle im unteren 7. Grad, in der man sich in einer Platte mit Gefühl auf einem kleinen Tritt aufrichten und zu einem weit seitlich liegenden Riss hinüberbeugen muss, führen zu kurzfristigem wohligem Adrenalin-Ausstoß. Die letzten zwei Seillängen leiten dann über wunderschöne steile Rissverschneidungen zum Ausstieg, uns gefallen sie am besten.Bis wir abgeseilt sind und wieder ins Tal abgestiegen, ist es Abend geworden. Der Campingplatz in Vallorcine ist ruhig und gemütlich gelegen mit einem kleinen Bach, der sich durch die Zeltwiese schlängelt. So genießen wir einen schönen Abend, wohlwissend dass der Wetterbericht für Samstag häufige Regenschauer vorhersagt. Am nächsten Morgen rufen wir nochmal in der Argentierehütte an, weil wir hoffen, doch noch einen Platz auf der Hütte zu bekommen. Der Hüttenwart geht aber weiterhin davon aus, dass trotz Niederschlägen alle angemeldeten Bergsteiger zur Hütte aufsteigen. So machen wir erst einmal einen gemütlichen Stadtbummel durch Chamonix. In keinem anderen Ort der Welt dürfte der Anteil an Menschen, die mit hochpreisigen gelben Hochtourenstiefeln durch eine Fußgängerzone flanieren, höher sein als hier, nicht wenige davon mit dem Plan, den 3800 Höhenmeter über dem Ort thronenden Mont Blanc zu besteigen. Zurück am Campingplatz üben wir verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten am Fixseil, diverse Knoten und verschiedene Methoden, einen Standplatz zu bauen. Beim Abendessen reift dann der Plan, am nächsten Tag eine Klettertour in den Aiguilles Rouges auf der Talseite gegenüber dem Mont Blanc anzugehen. Die erste Gondel der Seilbahn bringt uns auf eine Höhe von 2000m. Von hier aus ist eigentlich nicht weit bis zum Einstieg unserer Tour „Cocher-Cochon“ am Clocher de Planpraz (2412m). Obwohl erst im Jahr 2000 erstbegangen, ist diese abwechslungsreiche Tour im Schwierigkeitsbereich bis 6a rasch zum Klassiker gewordenen. Durch den langen Winter sind die Wege dorthin noch teilweise mit Schnee bedeckt und wir finden den Einstieg erst nach einem Abstieg über einen steilen Grashang. Die zweite Seillänge ist mit 5c bewertet und fühlt sich gleich deutlich härter an als vergleichbare Seillängen zwei Tage zuvor, auch geht es insgesamt deutlich steiler zu Gange als in unserer ersten Tour. Der Fels ist aber auch hier von bester Qualität, und die Aussicht auf das gegenüberliegende Mont Blanc-Massif und die vielen Spitzen der Aiguilles von Chamonix dürfte zu den spektakulärsten der Alpen gehörten. Kurz vor dem Gipfelturm versperrt uns ein großes Schneefeld, das die Route zum Teil überdeckt, den Weiterweg durch eine Rinne. Wir müssen das Schneefeld in leichtem, aber weitgehend ungesicherten Gelände umgehen, um weiter Richtung Gipfelturm zu gelangen. Der stellt sich als Highlight der Tour heraus. Durchgängig schwierig führt die Linie über 40m immer entlang der Kante zur schmalen Spitze. Von ihrer Schönheit ist sie mit den Nadeln am Salbitschijen und Bergell vergleichbar. Erfüllt von der beeindruckenden Tour müssen wir uns doch etwas mit dem Abstieg beeilen, weil die letzte Talfahrt schon um 17 Uhr zurück ins Tal führt. Mit etwas Überzeugungsarbeit beim Seilbahnpersonal schaffen wir es, dass auch die mit leichten Kniebeschwerden kämpfenden Kletterer unserer Gruppe 10 Minuten nach offiziellem Bahnschluss noch ins Tal schweben können.
Wieder einmal ist ein schönes Bergwochenende im Mont Blanc-Gebiet zu Ende gegangen. Wir bleiben zuversichtlich, dass es in den kommenden Jahren endlich auch einmal mit der lange geplanten Tour ins Argentiére-Becken klappt.
Jochen Dümas